Über naive und sentimentalische Dichtung

Über naive und sentimentalische Dichtung ist eine dichtungstheoretische Abhandlung von Friedrich Schiller aus dem Jahre 1795. In ihr beschreibt Schiller verschiedene Typen dichterischen Weltverhältnisses.

Die Schrift ist eingebettet in eine Geschichtsphilosophie (Natur – Kultur – Ideal) und Kulturkritik. Die Gegenwart, das Stadium der Kultur, wird als kritisch und überwindenswert dargestellt. Wie in den Ästhetischen Briefen kreisen Schillers Überlegungen um die Frage, ob in der Kunst ein Potential zur Überwindung des Ganzheitlichkeitsverlusts und der Naturwidrigkeit des gegenwärtigen Zeitalters bereitliegt. Den angestrebten Zustand nennt Schiller „Ideal“. Die Instanzen, in denen es zur Darstellung gelangt, sind die „Natur“ in der Form des „Naiven“ und die „sentimentalische“ Dichtung.

Im Fortgang der Schrift zeigt sich, dass das Naive in der Gegenwart nicht wiederholbar ist – eigentlich ist es selbst schon eine Projektion des sentimentalischen Bewusstseins –, auf der anderen Seite die sentimentalische Dichtung unter den schwierigen Bedingungen der Gegenwart letztlich nicht gelingen kann. Dies gilt für alle drei Unterarten der sentimentalischen Dichtung – Satire, Elegie und Idylle. Selbst die Idylle, die den „Vorschein“ des Ideals leisten könnte, scheitert daran, dass in ihrer konkreten Darstellung „die Wirklichkeit mit ihren Schranken und die Kultur mit ihrer Künstelei“ zutage tritt. Sie kann die Abweichung zwischen Ideal und Wirklichkeit nicht aufheben, sondern nur reproduzieren.

Beispiel

Der naive Dichter, etwa Homer, ist nach Schiller wie das Kind und der antike Mensch überhaupt „einig mit sich selbst und glücklich im Gefühl seiner Menschheit“; dagegen sind „wir“ – die modernen Menschen und sentimentalischen Dichter – „uneinig mit uns selbst und unglücklich in unsern Erfahrungen von Menschheit“. Unser Gefühl

[…] ist also nicht das, was die Alten hatten; es ist vielmehr einerlei mit demjenigen, welches wir für die Alten haben. Sie empfanden natürlich; wir empfinden das Natürliche. Es war ohne Zweifel ein ganz anderes Gefühl, was Homers Seele füllte, als er seinen göttlichen Sauhirt den Ulysses bewirten ließ, als was die Seele des jungen Werthers bewegte, da er nach einer lästigen Gesellschaft diesen Gesang las. Unser Gefühl für Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit.

Werk im Volltext

  • Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Die Horen, 1795/96.
    • [Tl. 1:] Über das Naive. In: Die Horen 1795, 11. St., T. VIII., S. 43–76. (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv).
    • [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1–55. (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv).
    • [Tl. 3:] Beschluß der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichter. In: Die Horen 1796, 1. St., T. VII., S. 75–122. (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv).
  • Wissen im Netz - Über naive und sentimentalische Dichtung

Literatur

  • Peter Szondi: Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung. In: Euphorion 66 (1972), S. 174–206; dazu auch:
  • Helmut Koopmann: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Schiller-Handbuch. Hrsg. von Helmut Koopmann. Stuttgart 1998, S. 627–638.
Werke Friedrich Schillers

Dramatische Werke
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Lyrik
Hektorlied | Hektor und Andromache | An die Freude | Resignation | Die Götter Griechenlandes | Das verschleierte Bild zu Sais | Die Teilung der Erde | Der Spaziergang | Xenien | Der Handschuh | Der Taucher | Die Kraniche des Ibykus | Der Ring des Polykrates | Ritter Toggenburg | Der Gang nach dem Eisenhammer | Der Kampf mit dem Drachen | Die Bürgschaft | Das Eleusische Fest | Das Lied von der Glocke | Nänie | Der Antritt des neuen Jahrhunderts | Das Siegesfest

Prosa
Der Verbrecher aus verlorener Ehre | Der Geisterseher | Die Sendung Moses | Eine großmütige Handlung | Spiel des Schicksals

Philosophische, literatur- und theatertheoretische Schriften
Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen | Über das gegenwärtige deutsche Theater | Der Spaziergang unter den Linden | Philosophische Briefe | Briefe über Don Carlos | Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet | Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen | Über die tragische Kunst | Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände | Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen | Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten | Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst | Augustenburger Briefe | Vom Erhabenen | Über Anmut und Würde | Über das Pathetische | Kallias-Briefe | Über die ästhetische Erziehung des Menschen | Über naive und sentimentalische Dichtung | Über das Erhabene

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